Wolfgang Witte

Chancen der Stilfindung und des freiwilligen Engagements nutzen !
- Zur Förderung stilorientierter Jugendszenen durch die Jugendarbeit -

Während die zeitgenössische Jugend- und Kultursoziologie ausführlich und eindrucksvoll beschreibt, welchen biographischen Wert die Beteiligung von Jugendlichen an stilorientierten Jugendszenen hat, gelingt es der institutionalisierten Jugendarbeit in Verbänden und Freizeiteinrichtungen erst nach und nach angemessene Formen der Förderung zu entwickeln. Wie kann die Faszination durch Rock, Pop, HipHop, Techno, Punk, durch Musik, Mode und Medien für die Optimierung der Entwicklungschancen von Jugendlichen genutzt werden? Wo liegen die Schnittmengen zwischen der Dynamik, den Werten und den Strukturen von stilorientierten Jugendszenen und denen der Jugendarbeit? 

Die Jugendsoziologie führt seit den siebziger Jahren eindringlich vor Augen, daß stilorientierte Jugendszenen ein relevantes Medium im Sozialisationsprozeß junger Menschen sind. Vor allem die Untersuchungen von Jugendkulturen wie rockers, teddy boys, hippies, skinheads durch das Centre of Contempory Cultural Studies(CCCS) belegten, daß Jugendstile als maps of meanings, als Bedeutungsmuster(CLARKE u.a. 1975) zu verstehen sind, die Jugendlichen Orientierung in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Gesellschaft, ihren Eltern und anderen Jugendlichen ermöglichen. Stile können gelesen werden, sie stellen eine Verständigungsform dar auch wenn ihre Bedeutungen denjenigen, die ihn produzieren in der Regel nicht voll bewußt sind. BAACKE wies auf diesen Umstand schon in Beat - die sprachlose Oppositon(1968) hin. Für die jungen Protagonisten ist fun handlungsleitend: sich wohl fühlen, intensive Erlebnisse haben, mit den richtigen Leuten eine gute Zeit verbringen. 

Stile sind das Produkt einer Gesellschaft, die auf Massenkonsum und Massenkommunikation ausgerichtet ist. In der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft sind nur solche Waren erfolgreich, die ästhetisch mit Phantasiewerten aufgeladen sind. Keine Zigarette, kein Auto, keine Hose, kein Lebensmittel, das nicht ästhetisch inszeniert und mit Wunschresten des ungelebten Lebens der Konsumenten aufgeladen würde. Soziologische Untersuchungen wie die des CCCS oder von SCHULZE(1992) zeigen aber, daß die Konsumenten solcher bedeutungshaltigen Waren keineswegs nur manipulierte Opfer sind, sondern selbst stilbildend tätig werden. Anhand von Jugendszenen hat HEBDIGE(1983) auf den Vorgang des bricolage hingewiesen: Gegenstände mit einem zunächst festgelegten Bedeutungsgehalt werden zu Rohmaterial für einen neuen Symbolzusammenhang, man denke an die Rolle von Sicherheitsnadeln und Hundehalsbändern bei den punks oder diejenige von Arbeitsstiefeln und Armeetarnkleidung für die skinheads. 

In Bezug auf junge Rockbands sind Gruppenprozesse, Stilbildungen und deren biographische Bedeutungen mittlerweile mehrfach untersucht und beschrieben worden (SPENGLER 1985, HILL 1996). Wie zentral das Sich-Einfinden in einen für die eigene Person und ihren Gruppenzusammenhang authentischen Stil für junge Rockbands ist, zeigen die Untersuchungen von vier Berliner Lehrlingsbands (SCHÄFFER 1996, 1997). Die Bildung eines eigenen Stils erscheint als ein dynamischer, niemals ganz abgeschlossener Prozeß, in dessen Verlauf ästhetische Formen permanent mit eigenen Stimmungslagen, sinnbezogenen Reflexionen und Wirkungen im sozialen Umfeld rückgekoppelt werden. Deutlich wird, daß die Intensität und die Dynamik dieser Auseinandersetzung zentral für den pädagogischen Bildungswert im Sinne von Zugewinn an Differenziertheit und Handlungsfähigkeit ist. Der biograghische Wert dieses Sich-Einfindens reicht weit über das Musikalische hinaus. Mit der Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Musikstil können sich komplexe Entscheidungen über Werthaltungen beispielsweise hinsichtlich Partnerschaft, sozialer Orientierung und der Bewertung des gesellschaftlichen Umfeldes verbinden.

Stile entfalten sich in Szenen. Diese sind in ihren Grenzen nicht so deutlich wie Gruppen, die Zugehörigkeiten sind weniger klar definiert und es bestehen keine festgelegten Verpflichtungen untereinander. Dennoch kann die Bindung der Beteiligten an eine Szene sehr eng sein. Die Zugehörigkeit wird nicht wie bei anderen Gruppierungsarten durch einen formellen Beitritt, durch Initiationen, durch festgeschriebene gemeinsame Ziele und durch eindeutige Verpflichtungen bestimmt sondern durch gemeinsames Erleben. Szenen entstehen aufgrund eines Erlebnisangebotes, das wahrgenommen werden kann aber nicht muß(vgl. SCHULZE 1992). Dazu benötigen sie Orte, an denen sie sich einfinden, die jedoch in den Zeiten des Internet nicht mehr unbedingt geographisch bestimmt sein müssen. 

Der Bedeutungszuwachs von Szenen für die Entwicklung von Jugendlichen ergibt sich auch aus den zunehmenden Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft(BECK 1986). Mit der Freisetzung aus traditionellen Bindungen an Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Nachbarschaft wächst ein Bedürfnis, sich sozialer Zugehörigkeit zu vergewissern, Gemeinschaft zu erleben und Vereinzelung sowie Ausgeliefertsein entgegenzuwirken. Gerade für Jugendarbeit muß aber festgehalten werden, daß Szenen immer auch Menschen produzieren, die nicht dazugehören, nicht zuletzt diejenigen, die sich die notwendigen Assessoires und Eintrittsgelder finanziell nicht leisten können.

Die Bindung an eine Szene muß nicht exclusiv sein. Kennzeichnend für die Mehrheit der Jugendlichen ist ein Nebeneinander verschiedenen Lebenswelten , wobei ein Jugendlicher sowohl Familienmitglied, Schüler, Mitglied im Sportverein als auch  Graffiti-Writer sein und Freunde bei den Punks haben kann. Hinzu kommt, daß Jugendliche im Laufe ihrer Biografie meist mehrere Szenen durch laufen, wobei sich die bereits erwähnte Prozeßartigkeit von Stilfindungsprozessen deutlich zeigt.

Das Verhältnis von Aktivisten, die die Ereignisse schaffen, bei denen sich Szenen realiiseren, und Publikum ist sehr unterschiedlich. Bei manchen Szenen ist nahezu jede Involvierte selbst gestaltend aktiv, bei anderen fallen beide Gruppen mehr auseinander. So stehen die Mitglieder von Rockmusikerszenen zeitweise auf der Bühne, machen aber auch einen großen Teil des Publikums entsprechender Konzerte aus. In der HipHop-Szene sind ein großer Teil der Breakdancer, Rapper, Djs, Writer ebenfalls sowohl Aktive als auch Publikum. Techno-Szenen lassen eher eine Trennung in Aktive - Djs, Organisatoren, Publizisten und Publikum andererseits erkennen. Trotz dieser Unterschiede muß festgehalten werden, daß stilororientierte Szenen auf Jugendliche einen großen Reiz zur gestaltenden Mitwirkung ausüben. 
 

Zum Verhältnis von stilorientierten Szenen und Jugendarbeit

Bis in die späten sechziger Jahre hinein standen die Institutionen der Jugendarbeit den stilorientierten Jugendszenen außerordentlich skeptisch gegenüber, wenn auch - zeitbedingt - aus verschiedenen Gründen. 

Schon vor der Entstehung von beiden deutschen Nachkriegsstaaten gab es folgenreiche Erfahrungen im Verhältnis von stilorientierten Jugendszenen und staatlicher Jugendarbeit. So war der angloamerikanisch geprägte Jazz durch die Nationalsozialisten 1935 als ”Nigger-Jazz” verurteilt und wegen seiner ”zersetzenden” Kraft verboten worden. Nach dem Eintritt Amerikas in den 2. Weltkrieg wurden großstädtische Swing-Jugendliche (”Tango-Jünglinge”) und Jazz-Musiker verfolgt und nicht selten in Konzentrationslager eingewiesen, wo sie dann mitunter auch noch die Ablehnung von Häftlingen aus Organisationen der Arbeiterbewegung zu spüren bekamen(RITTER 1994). 

Die rassistische Ablehnung des Jazz durch die herrschende deutsche Öffentlichkeit wurde in den fünfziger Jahren in Bezug auf den Rock`n`Roll weitergeführt, der ebenfalls als ”Urwald- und Affenmusik” diskreditiert wurde. Die organisierte Jugendarbeit, in jenen Jahren hauptsächlich durch die Jugendverbände repräsentiert, konnte mit den neuen Stilen ebenfalls nicht viel anfangen. Das musikalische Repertoire wurde hauptsächlich durch die ”Mundorgel” repräsentiert, jeweils ergänzt durch Lieder der Arbeiterbewegung oder der Kirchen. Wie der Musik erging es auch den anderen Stilelementen. Jeans, Cordhosen, Kreppsohlenschuhe, Hawaihemden, lange Haare, Schminke, Tänze fanden weder in der Öffentlichkeit noch in der organisierten Jugendarbeit Fürsprecher, all das wurde bestenfalls geduldet. 

Ähnliche Konflikte hatte auch die nachfolgende Generation der Beat-Fans durchzustehen, die eine weitaus größere Faszinantion auf Jugendliche ausübte, als alle Szenen und Stile zuvor. Entscheidend war, daß sie im Unterschied zum eher bürgerlichen Swing und Jazz und zum eher proletarischen Rock n`Roll nicht nur Jugendliche aus einzelnen Schichten ansprach sondern in den sechziger Jahren eine ganze Generation erreichte. Im Kontext der 68er-Bewegung formulierte sie eine umfassende Gesellschaftskritik und begann realutopische Gegenkulturen zu initiieren.(HOLLSTEIN 1969) Der Konflikt zwischen der auf Korrektheit, Ordnung, Sauberkeit und Fleiß verpflichteten Mittelstandsgesellschaft und dem neuen Stil der Jugendlichen kulminierte im Streit um die ”Gammler”, einer speziell deutschen Variante der hippies, die einen neuen und provozierenden Hedonismus zur Schau trugen.

Die Jugendarbeit ging während der sechziger Jahrte auf die neuen Freizeitbedürfnisse ein, indem Jugendfreizeiteinrichtungen Konzerte veranstalteten und in Großstädten wie in West-Berlin Tanzlokale speziell für Jugendliche eingerichtet wurden. 

Ein Versuch Jugendarbeit und Jugendszenen füreinander fruchtbar zu machen ist das schon erwähnte Buch von Baacke Beat - die sprachlose Opposition(1968), das Ratschläge für die Förderung von Beat-Bands und die Bildungsarbeit mit Jugendlichen zum Thema gab. Wegen der nach der Studentenbewegung betriebenen dogmatischen Politisierung auch der Jugendarbeit und ihrer nachfolgenden Sozialpädagogisierung versandete dieser Ansatz jedoch bald wieder. Jugendstile und Rockmusik wurden einer Kaptalismuskritik unterzogen, die die kreativen und vitalen Möglichkeiten stilorientierter Jugendszenen weitgehend ignorierte: POPMUSIK - Profite für das Kapital (1971)

In der DDR waren Jugendszenen, die sich abseits der staatlichen Jugendorganisationen bildeten noch wesentlich unerwünschter als in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre, weil sie dem Totalitätsanspruch der staatlichen Jugendarbeit zuwiderliefen. Jugendszenen, die sich an westlichen Vorbildern orientierten, wurden mit Begriffen wie ”feindlich”, ”negativ” und ”dekadent” charakterisiert sowie durch Staats- und Parteiorganisationen bekämpft und verfolgt.(AHRBERG 1996) Unterdrückung wechselte seit Mitte der sechziger Jahre mit Versuchen, Elemente westlicher Jugendstile im Kontext des eigenen Kulturverständnisses zu reproduzieren und auf diese Weise zu integrieren. Ergebnis dieser Politik waren das Jugendradio DT 64, die DDR-spezifischen Rockbands und die Jugendklubszene. Dennoch war nicht zu verhindern, daß jeder Jugendstil des Westens auch in der DDR seine Anhänger fand und eine entsprechende Szene entstehen ließ(LEITNER 1983). Neben Fällen von unmittelbarer politischer Unterdrückung und den Auswirkungen eines ”zählebigen Kunstzentrismus”(WICKE 1991) der Kulturbürokratie litten DDR-Jugendszenen auch darunter, von der Konsumgesellschaft, die in den westlichen Ländern das Rohmaterial für Stilbildungen zur Verfügung stellt, abgeschnitten gewesen zu sein. Die stärkere Formierung und Reglementierung der Gesellschaft und die weniger plakative Ausprägung der Jugendstile haben bis zum Ende der DDR im Bewußtsein der Jugendlichen eine Unterteilung in Stinos (von stinknormal) und Schräge begünstigt, so daß die Jugendszenen trotz mancher Differenzen sich eher als Gemeinschaft fühlten. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo die Stilexplosion seit den achtziger Jahren vielfältigere, sich eher fremde Szenen schaffte.

Ein intensiverer methodischer Bezug der Jugendarbeit auf stilorientierte Jugendszenen beginnt in der früheren Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre im Kontext kulturpädagogischer bzw. sozio-kultureller Konzepte von Jugendarbeit (z.B. TREPTOW 1986). Im Mittelpunkt stand zunächst, Elemente der Jugendstile für eine Belebung der Jugendarbeit zu nutzen. Zu nennen sind Ansätze, die Disco-Begeisterung der Jugendlichen pädagogisch zu nutzen (FRANZ u.a. 1980), Bildungsseminare mit Jugendlichen zum Thema Popkultur und Jugendstile durchzuführen(WITTE 1979), themenspezifische Zeltlager zu veranstalten(KRETSCHMAR/LOYDA/SCHUMANN 1981), Rockmusik für Gruppenarbeit an sozialen Brennpunkten (HILL/PLEINER 1993) und für Suchtprävention (SENATORIN FÜR JUGEND UND FAMILIE BERLIN 1986) zu nutzen.

Musik, Mode, Tanz, Graffiti, die Produktion von Videoclips, Audioaufnahmen und Musicals sind mittlerweile fester Bestandteil von Angeboten der Jugendarbeit im früheren Westen ebenso wie im ehemaligen Osten. Kaum überschaubar ist mittlerweile die Bandbreite der pädagogisch und sozio-kulturell fördernden Aktivitäten. Allein bezogen auf Berlin wurden in der Jugendarbeit kürzlich etwa 40 Tonstudios - wenn auch höchst unterschiedlicher Qualität - gezählt und etwa siebzig Jugendfreizeiteinrichtungen, die über Übungsräume für junge Bands verfügen (LANDESVEREINIGUNG KULTURELLE JUGENDBILDUNG BERLIN, 1995). Kaum ein Jugendzentrum, das nicht wenigstens einige Elemente, einige Gestaltungsformen aus dem Kosmos der Jugendstile aufgreift. Auch Jugendverbände bemühen sich, ihre Aktivitäten entsprechend zu modernisieren, sei es durch eine Techno-Parade zum 1. Mai oder durch die Integration von Rockszenen in das Jugendverbandsgeschehen.

In der Regel führte das Einbeziehen von Elementen der Jugendstile zunächst zu einer Erneuerung der Jugendarbeitangebote: Mode statt Töpfern, Videoclips statt Fotoserien, Streetball statt Fußball. Dabei wechseln zwar die Inhalte und Themen, diese bleiben aber in ein pädagogisch strukturiertes Setting eingebunden. Besonders für die Arbeit mit jüngeren Jugendlichen hat sich diese Integration von Stil- und Szenenelementen in die Jugendarbeit als erfolgreicher Ansatz herausgestellt, weil diese hier einen Weg finden, an den Szenen der Älteren teilzuhaben und zugleich den Schutz einer Jugendeinrichtung zu genießen. Ältere Jugendliche, besonders, wenn sie selbst solchen Szenen angehören, fühlen sich dagegen oft nicht angesprochen, meiden solche Angebote eher, wenn sie spüren, daß es sich nicht ein vitales Szenegeschehen sondern um eine von Pädagogen strukturierte Inszenierung handelt. Auf das widersprüchliche Verhältnis von ”Jugendkulturen und organisierter Pädagogik” wurde bereits durch BAACKE(1993) hingewiesen, BRENNER(1989) kritisierte die geringe Neigung von Jugendverbänden sich tätsächlich auf Jugendszenen einzulassen und die Neigung von Kulturpädagogen, Jugendliche zu ”kreativieren”. Die institutionell-pädagogische Prägung reduziert sich jedoch in dem Maße, wie komplexe Projekte entstehen. Förderzusammenhänge, die sowohl Übungsräume, Tonstudios, und Veranstaltungstechnik bieten, Szenezeitschriften, Fernseh- und Rundfunkproduktionen umfassen, Workshops, Festivals und Konzerte veranstalten sowie in einem Zusammenspiel von Sozialpädagogen, Spezialisten aus verschiedenen Szenen und Ehrenamtlichen Bildung, soziokulturelle Förderung und sozialpädagoische Ziele miteinder verbinden, entfalten szenennähere Arbeitsformen und Profile.(HAPPEL 1996, BICK 1996)

Am leichtesten gelingt eine Förderung, wo Jugendarbeit fachkundige Förderung anbietet, z.B. durch künstlerisch kompetente Anleiter von Workshops, durch technische Unterstützung wie Tonstudios oder Lay-out-fähige Computer. Mit solchen Dienstleistungen werden Szenen gefördert, die sich allerdings dann häufig außerhalb der Jugendarbeit entfalten. 

Sowohl die Einbeziehung von stilorientierten Jugendszenen in die Jugendarbeit als auch die Ausweitung von szenenbezogenen Dienstleistungen bewirken auch eine Veränderung der von den Jugendarbeitern benötigten Qualifikationen. Weniger noch als in früheren Zeiten scheinen die an den Ausbildungsstätten vermittelten Fähigkeiten geeignet, den Qualitätsansprüchen von Jugendlichen gerecht zu werden. Überwiegend autodidaktisch, aber auch durch entsprechende Fort- und Weiterbildungsangebote eignen sich Mitarbeiter der Jugendarbeit deshalb zunehmend Kompetenzen an, die es ihnen gestatten mit Sachverstand auf die aktuellen ästhetischen Interessen von jungen Menschen einzugehen. So haben in Berlin zwischen 1993 und 1996 etwa 600 Mitarbeiter aus Jugendarbeit an dem umfangreichen Weiterbildungsprogarmm Jugendkulturarbeit in Praxis teilgenommen, das gerade auch Fähigkeiten für die Förderung stilorientierter Jugendszenen vermittelte. 

Die Schwierigkeiten liegen auf zwei Ebenen. Einerseits bleiben die stilorientierten Jugendszenen dem Alltag der Jugendarbeit, besonders dem offenen Bereich, oft weitgehend fremd. Andererseits stößt die Jugendarbeit an die Grenzen ihrer materiellen Möglichkeiten. Für Jugendfreizeiteinrichtungen wird es immer schwieriger Mitarbeiter und Sachmittel für die mitunter sehr speziellen Handlungsfelder zur Verfügung zu stellen.

Eine mögliche Perspektive liegt auf der Hand. Die Institutionen der Jugendarbeit müssen so gestaltet und organisiert werden, daß sie von Jugendszenen angenommen werden und daß sie deren vitale Dynamik, insbesondere Mechanismen gegenseitiger Hilfe fördern. Dazu muß durch die Jugendarbeit erkannt werden, daß es in den Szenen viel mehr Jugendliche gibt, die aktiv etwas für andere tun, auch: eine ”Rolle spielen” wollen, als tatsächlich zum Zuge kommen. Ziel wäre es, dieses Interesse als neue Form des Freiwilligen Engagements bzw. der Ehrenamtlichkeit wahrzunehmen und zu fördern. Erfahrungen mit der Förderung von jungen Rockmusikern zeigen, daß Jugendliche durchaus bereit sind - auch ohne Bezahlung - Funktionen als Konzertveranstalter, als Tontechniker, als Anleiter von Workshops zu übernehmen, wenn diese Aufgaben andere Äquivalente bieten, z.B. indem sie einen gewissen Ernstcharakter haben, wenn sie mit Prestige verbunden sind oder wenn mögliche berufliche Perspektiven ausprobiert bzw. berufsrelevante Qualifikationen erworben werden können. Im Hinblick auf solche Aufgaben sind Jugendliche und junge Erwachsene bereit, verantwortlich Aufgaben zu übernehmen, aber ”weil es uns Spaß macht” (WITTE 1995). Selbst langjährig und sehr verbindlich tätige Freiwillige aus Szenezusammenhängen benötigen offenbar die Gewißheit, aus freien Stücken tätig zu sein und jederzeit aufhören zu können - wenn es keinen Spaß mehr macht.

Das Engagement, das aus stilorientierten Jugendszenen erwächst, unterscheidet sich erkennbar von der traditionellen Ehrenamtlichkeit innerhalb der Jugendarbeit. Es ist eher pragmatisch angelegt und hat keinen Bezug zu den oft als abgehoben empfundenen und durch den Einzelnen kaum beeinflußbaren Zielen, Beschlußlagen, Hierarchien und Machtstrukturen der Institutionen der Jugendarbeit. Jugendliche, die sich aus Szenen heraus engagieren, brauchen eher das Gefühl, selbst über ihre Vorhaben entscheiden können als den Rückhalt einer starken, dominanten Institution.

Für die Praxis der Jugendarbeit werden ebenfalls konzeptionelle Konsequenzen deutlich. An die Stelle einer beziehungsorientierten pädagogischen Arbeit, wie sie herkömmliche Konzepte der offenen Jugendarbeit meist vorsehen, tritt - zumindest im Hinblick auf die Förderung älterer Jugendlicher und junger Erwachsener - eine großteils anleitende, organisierende, soziale Räume gestaltende Tätigkeit. Diese Arbeit ist alles andere als kaltes Management, vielmehr kommt es darauf an verläßliche Beziehungen zu den Freiwilligen zu entwickeln, was die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Zielen der Arbeit ebenso einschließt wie das Klären und Durchsetzen von Regeln, das Vermitteln technischer Zusammenhänge und das Reflektieren der persönlichen Erfahrungen. Am Beispiel der Arbeit mit freiwilligen Tontechnikern in einen Tonstudio für junge Bands kann dies veranschaulicht werden: Mit den jungen Tontechnikern muß geklärt werden, welche Ziele erreicht werden sollen( etwa: positive ästhetische und soziale Erfahrungen für die Musiker, Unterstützen solidarischer Gruppenbeziehungen in Bands, Vermittlung von musikalischen und technischen Zusammenhängen), welche Regeln gelten (Arbeitszeiten, Benutzung für eigene Zwecke, Schlüsselregelungen, Saubermachen), welche persönliche Erfahrungen gemacht werden(z.B., wenn eine neu eingearbeitete Tontechnikern die ersten Male mit jungen Bands arbeitet und vielfältige technische, künstlerische und soziale Anforderungen zu meistern hat). Für solche vielfältig anspruchsvollen Felder sind verläßliche und positive, von Respekt geprägte Beziehungen notwendig.

An Jugendarbeiter, die durch stilorientierte Szenen geprägte soziale Felder gestalten sollen, werden vielfältige Anforderungen gestellt. Notwendig ist in der Regel ein gründliches Wissen über technische und ästhetische Zusammenhänge in Musik, Tontechnik, Videotechnik, Computerarbeit, Öffentlichkeitsarbeit usw., zugleich aber die Bereitschaft, diese Kenntnisse anleitend einzusetzen und den Versuchungen einer Pseudo-Berufsidentität als Tontechniker, Konzertveranstalter, Zeitungsmacher usw. zu widerstehen.

Infrage steht auch die der örtliche Bezug von Jugendarbeit. Wenn auf stilorientierte Jugendszenen Bezug genommen werden soll, muß sich Jugendarbeit auch auf deren Reichweiten einlassen. Die Lebenswelten von älteren Jugendlichen, die sich in Rock-, HipHop- oder Danceszenen engagieren, beschränken sich nicht auf einen Stadteil und überschreiten das unmittelbare Wohnumfeld, das gewöhnlich den Aktionsrahmen für Kinder und jüngere Jugendliche bietet. Stattdessen existieren oft weit reichende Verbindungen in entfernte Bezirke, Städte oder Länder. Jugendliche, die sich mit globalen Stilen und Szenen identifizieren, müssen durch Jugendarbeit in der Erweiterung ihrer Handlungsfelder gefördert werden. Die Praxis der Jugendarbeit hat hierfür unterschiedliche Projektformen entwickelt, z.B.: 

- Veranstaltungen wie Konzerte, Wettbewerbe, Festivals, Workshops sowie Medienprojekte wie Tonstudios und Videowerkstätten, die durch einzelne Jugendzentren durchgeführt werden und die meist interessierte Jugendliche eines weiteren Einzugsbereiches ansprechen.

- Mobile Projekte wie Rock- und HipHopmobile, die Angebote in einzelnen Jugendzentren, Schulen und sozialen Einrichtungen durchführen und zugleich Verbindungen zwischen den jeweils angesprochenen Jugendlichen schaffen und auf fachlicher Ebene Vernetzung und Kooordination fördern.

- Koordinationsformen wie Landesarbeitsgemeinschaften, die einen überörtlichen fachlichen Austausch und eine jugendpolitische Interessenvertretung schaffen

- Internationale Begegnungen und interkulturelle Projekte wie Austausch und Reisen von Jugendrockbands oder Graffiti-Writern 

- Öffentlichkeitsprojekte, wobei Rundfunk-, Fernseh- und Zeitungsprojekte von Jugendlichen für Jugendliche einer Region produziert werden

Problematisch ist, daß die Notwendigkeit einer bisherige Organisationsgrenzen von Jugendarbeit überschreitenden Zielgruppendefinition in Zeiten reduzierter öffentlicher Finanzmittel durch die örtliche Jugendhilfeplanung, die Fachplanung der Jugendarbeit und die Jugendpolitik nicht nachvollzogen und stattdessen der ausschließlich örtliche Bedarf in den Vordergund gestellt wird. Soll ein Jugendzentrum einen Rockwettbewerb für eine ganze Region durchführen, wenn schon der Bedarf an ”Lücke-Kinder”-Angeboten im Stadtteil nicht gedeckt werden kann ?! Die Verringerung der für Jugendarbeit eingesetzten finanziellen Mittel und die darauf folgende Konzentration auf das tatsächlich oder scheinbar Wesentliche produziert leicht eine inhaltliche Verkürzung und eine Provinzialisierung von Jugendarbeit, wo die kulturelle Dynamik der stilorientierten Jugendszenen doch gerade gestalterische und regionale Offenheit erfordern. 

Die Förderung Jugendlicher im Kontext von Jugendszenen stellt auf besondere Weise die Frage nach der Identität und der Wertorientierung von Jugendarbeit. Spätestens im Hinblick auf die Förderung von Jugendlichen aus nationalistischen und rassistischen Jugendszenen wurde deutlich, daß auf Emanzipation zielende Jugendarbeit auch ihre eigenen Werte verdeutlichen und ihre Methoden entsprechend begründen muß. Die Förderung von stilorientierten Jugenszenen kann sich, wie das Beispiel nationalistisch und rassistisch gesinnter Rockbands gezeigt hat, nicht darauf verlassen, daß das rebellische Potential sich im Sinne emanzipativer Zielsetzungen Bahn bricht.(DIEDERICHSEN 1993) Jugendstile und Jugendszenen - auch wenn sie aus einer vielleicht sympathischen Rebellion gegen gesellschaftliche Strukturen entstehen - stellen eine Mischung ambivalenter, auch widersprüchlicher Haltungen und Einstellungen dar. Die HipHop-Szene etwa beinhaltet sowohl gesellschaftskritische und auf Emanzipation zielende, antirassistische als auch gewaltverherrlichende und frauenfeindliche Haltungen. Graffiti-Gruppen haben teilweise massive Herrschaftstrukturen, die Techno-Szene bietet neben der Möglichkeit zu befreiender Ekstase auch Drogen- und Suchtgefährdungen. 

Jugendarbeit kann sich nicht darauf beschränken, die Gesamtheit einer Szene quasi unbesehen zu fördern, sondern muß diejenigen Elemente zu stärken, die Jugendlichen Handlungsmöglichkeiten und emanzipatorische Entwicklungen ermöglichen. Mit Umsicht muß sie durch Diskurs, Regeln und alternative Angebote diejenigen reduzieren, die Regressionen und Gefährdungen beinhalten. Dabei ist auch zu beachten, daß Stilorientierung für manche Jugendliche in existenzielle Sackgassen führt, wodurch weitere Entwicklungsmöglichkeiten eher eingeschränkt als gefördert werden. Hier käme es darauf an, solche Perspektiven zu fördern, die über die stilorientierten Jugendszenen hinausführen, z.B. indem sie die Berufsfindung und die Entwicklung von Partnerschaften fördern..

Bei aller Förderung sollte es vorrangig eher darum gehen, prozeßhafte Entwicklung zu unterstützen als durch Jugendarbeit spezielle Stile in einem normativen Sinne zu fördern. So ist es weniger wichtig, Rockmusik als Kulturform zu pflegen, als das Interesse von (rock-)musikinteressierten Jugendlichen am dynamischen Sich-Einfinden zu unterstützen - auch wenn eine HipHop-Produktion dabei herauskommt.

Schließlich muß sich Jugendarbeit mit den Konflikten auseinandersetzen, die zwischen Jugendszenen und der herrschenden Öffentlichkeit bestehen, wobei es immer wieder um die Frage der Ordnung bzw. der Dominanz im öffentlichen Raum geht. Kennzeichnend ist dabei das weitgehende Unverständnis der jeweils anderen Interessen und Motivationen der beteiligten Gruppen. Weil die Jugendszenen es meist am schwersten haben, ihre Inhalte zu vermitteln, sich ihrer oft auch nicht vollständig bewußt sind, muß sich Jugendarbeit hier um Verdeutlichung und Öffentlichkeit bemühen.

Dabei ist allerdings zu beachten, daß am Ende nicht doch pädagogisierte Inszenierungen entstehen sondern reale Handlungs- und Erlebnisfelder erschlossen werden, die die Chancen stilorientierter Szenen für die Entwicklung und Partizipation Jugendlicher optimieren.
 

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(erschienen in deutsche jugend 12/1998)