zurück zur Textliste
zurück zur Startseite
 
Wolfgang Witte

„Am besten: Hand abhacken“ - 
Kulturelle Zusammenhänge von Jugenddelinquenz am Beispiel von HipHop und Graffiti

Graffiti und kein Ende. 30 Jahre nachdem ein New Yorker Sprayer U-Bahn-Züge besprühte und Graffiti zum Gegenstand Kontroversen und ordnungspolitischer Maßnahmen wurden, reisst die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema nicht ab. Auch wenn die Anzahl der jungen Menschen, die der sprayer-Szene verbunden sind, in den letzten Jahren eher zurückgegangen ist, findet die Thematik immer wieder ihren Weg in die Schlagzeilen der Massenpresse. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Graffiti kann also auf eine ausdifferenzierte Palette von Aktions- und Reaktionsmustern Bezug nehmen. 

Problematisch an der öffentlichen Diskussion ist, dass es der Gesellschaft nur schwer gelingt, die Diffenziertheit, insbesondere die kulturellen - sozialen und ästhetischen - Kontexte und biographischen Bedeutungen von Graffiti für Jugendliche zu erkennen und angemessene Haltungen, auch wirksame Präventionsstrategien zu entwickeln. Stets drohen die Maßstäbe in hysterischen öffentlichen Stellungnahmen und Forderungen zu verrutschen. Zeitungsüberschriften wie „So kriminell ist die Sprayerszene“ sind keine Seltenheit. Positive Elemente geraten erst gar nicht in den Blick.

Für Jugendarbeiter, die junge Menschen fördern indem sie an deren Interessen anknüpfen und für Sozialarbeiter, die sich mitunter auch mit den problematischen Folgen des Sprayens auseinandersetzen müssen, ist es gleichermaßen wichtig, sich über Bedeutungen und Hintergründe Klarheit zu verschaffen. Naiver Euphemismus ist ebensowenig angebracht wie die Orientierung an vorurteilsgeprägten öffentlichen Vorstellungen über sprayer und writer der Graffitiszene. (Das obige Zitat entstammt übrigens einem „Flurgespräch“ unter Mitarbeitern der Jugendhilfe.)

Wenn Chancen optimiert, Gefährdungen für junge Menschen und Schädigungen anderer reduziert werden sollen, ist es notwendig, sich Ursprünge, kulturelle und soziale Bedeutungen und Zusammenhänge von Graffiti zu verdeutlichen. Hierzu gehört nicht zuletzt die Erörterung der Frage wie sich die Sprayerszene in der Folge der intensiven öffentlichen Diskussion selbst verändert hat.

Graffiti entwickelte sich seit den frühen siebziger Jahren in nordamerikanischen Großstädten als Teil von HipHop, dessen weitere Elemente breakdance, Rap und DJing – heute auch skaten und andere Straßensportarten - sind. Die kulturellen Bezüge des HipHop liegen in den schwarzen Gemeinden: musikalisch und auch literarisch im Soul, im Reggae und in der schwarzen Gemeindemusik, bildnerisch in lateinamerikanischen Traditionen der mural art und des comic. Auch der akrobatische Breakdance hat entsprechende Vorläufer. Typisch für die HipHop-Kultur ist die Forderung nach respect, nach Anerkennung und Achtung der eigenen Person. Als Teil einer unterdrückten schwarzen Minderheitenkultur thematisiert HipHop, wie sich Menschen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Unterdrückung Achtung verschaffen.

HipHop unterscheidet sich von anderen Jugendszenen, insbesoners der früheren Rockszenen durch eine ausgeprägte Aktions- und Erlebnisorientierung, durch ein Streben nach Gewitztheit, Schnelligkeit und Überraschung. Ähnlich wie bei artistischen Breakdance-Figuren, schnellzüngige Raptexten, orginellen Musikmontagen gilt für Graffiti-Pieces: je unmöglicher und riskanter zu erreichen, je individueller, je gekonnter desto größer ist die Anerkennung, der fame. Hierbei entsteht jedoch im Unterschied zu Rap oder Breakdance ein besonders Zusammenspiel von Öffentlichkeit und Konspiration. Für Sprayer ist es ein besonderer Erfolg, wenn ihr Werk an aufsehenerregender Stelle wahrgenommen wird. Da es sich hier oft um nicht legale Orte handelt, muss die personelle Identität verborgen bleiben. Die von Sprayern angestrebte Öffentlichkeit besteht allerdings zuallererst aus den Angehörigen der eigenen Szene, erst inzweiter Linie aus anderen Jugendlichen oder der uneingeweihten Allgemeinheit.

Graffiti unterscheidet sich von anderen Formen bildnerischen Gestaltens dadurch, dass dem Schriftzug des Sprayers, dem tag oder piece seines Szenenamens besondere Bedeutung zukommt. Viele Graffiti bestehen nur aus diesem Kürzel oder sind um sie herum gestaltet. Diese Hervorhebung eines Namensysmbols, hinter dem sich auch eine Gruppe verbergen kann, ist besonders schwer mit den hierzulande üblichen Vorstellungen über Kunst zu vereinbaren, wobei zum Namenslogo auch ein Bild gehört. Sie zeigt aber gerade wie wichtig die Inszenierung von Identität - wenn auch einer konspirativen – und das Streben nach respect ist. 

Aktion und Kunst: Graffiti war von Beginn an beides. Schon die ersten besprühten New Yorker U-Bahnzüge beinhalteten einen künstlerischen, popkulturellen Anspruch. Graffitti sollen Farbe und Bilder in die grauen Stadtlandschaften bringen. Die künstlerische Dimension führte dazu, dass Graffiti-Bilder schon früh in Galerien gezeigt wurden und spray art fester Bestandteil jugendbezogener Werbung wurde. Wer auf Konsumenten im jungen HipHop-Markt zielt, kommt nicht umhin seine Waren im Graffiti-Stil zu präsentieren.

Die nordamerikanische HipHop-Kultur ist hierzulande von Jugendlichengruppen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft quer durch soziale Schichten adaptiert worden. Türkisch- und arabischstämmige Jugendlichen finden eine Möglichkeit sowohl Gefühlen von Ausgegrenztsein und Verletztheit als auch dem Wunsch nach respect Ausdruck zu geben. Dabei orientieren sie sich nicht selten am Bild des gangsters, der auf illegalem Wege als Bandit, Zuhälter oder Drogenhändler seinen Weg zu Wohlstand und Anerkennung sucht. Diese aus vielen Minderheitenkulturen bekannte Figur ist im HipHop durch den gangsta rap wiederbelebt worden - was gerade innerhalb der schwarzen Gemeinden und der HipHop-Szene selbst als Ausverkauf von Bürgerrechtswerten wie Solidarität und als überzogener Egoismus kritisiert wird. Für die deutschen Migrationsverhältnisse muss es zu denken geben, wenn Einwandererjugendliche kulturelle Orientierungen wählen, die ein Gefühl von Anerkennung hauptsächlich über gewalthaltige Rollenklischees, stilisiertes Gangstergehabe und Abwertung anderer – insbesondere Frauen - bieten.

Für die Erklärung der Entstehung von Subkulturen Jugendlicher ist durch Sozialwissenschaftler auf die Bedeutung von Desintegrationsprozessen hingewiesen worden. Jugendliche, die in ihren familiären Zusammenhängen keinen Rückhalt finden, die als Schulversager den Kontakt zu gleichaltrigen Schülern verlieren, die Diskriminierungen wegen ihrer Herkunft ausgesetzt sind, denen der Eintritt ins Berufsleben verwehrt wird oder die Mißerfolge bei der Herausbildung ihrer sexuellen Identität erleben, neigen dazu, Ablehnung und negative Zuschreibungen in subkulturelle Identitätsentwürfe umzuformen. Ergebnis ist ein problematisches Selbstbild, die sich nicht mehr gegen gesellschaftliche Zumutungen wehrt sondern sie in – scheinbar - positive Werte umdefiniert.
Dennoch sind HipHop und Graffiti keine Unterschichtsphänomene, sondern beziehen Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten ein. Ihre Beliebtheit ergibt sich aus der technischen und ästhetischen Aktualität als umfassend zeitgenössischer Stil, der in Musik, Sprache, Tanz und bildnerischem Gestalten Raum für künstlerischen Ausdruck bietet und mit der aktuellen Computer- und Sampleästhetik verknüpft ist. Nicht zuletzt funktioniert der für die Elterngeneration ungewohnte HipHop als geeignetes Vehikel um sich von den älteren abzugrenzen und eine Welt mit eigenen ästhetischen Regeln, von denen die Eltern nichts verstehen zu errichten.

Von besonderem jugendpolitischen Intersse muss sein, dass HipHop und Graffiti Multikulturalität und Internationalität betonen. Es ist nicht nur ein Bewußtsein von den schwarzen Wurzeln vorhanden, sondern es wird generell Wert auf Kontakte zu Szenen aus anderen Städten und Ländern gesucht. In der Kontroverse um Graffiti ist dies der am meisten ignorierte Aspekt: Als Teil von HipHop ist Graffiti Element derjenigen Jugendszene, deren grundlegende Werte – trotz vieler Ungereimtheiten und Brüche - am ehesten denjenigen einer demokratischen Gesellschaft entsprechen und die derzeit die bedeutendste kulturelle Alternative gegen rassistisch und nationalistisch orientierte Jugendszenen darstellt.

Problematisch an Graffiti sind die in Kauf genommene Schädigung von Eigentümern und die Gefahren, denen sich die Sprayer bei ihren Aktionen selbst aussetzen. Das Anbringen von Graffiti ist für die Öffentlichkeit außerhalb der Szene nur schwer zu ertragen, da üblicherweise die Eigentümer nicht gefragt werden und Graffiti meist ästhetisch als Verschandelung empfunden werden. Für die Sprayer ergeben sich Gefährdungen in mehrfacher Hinsicht. Das Bestreben, Graffiti an besonders schwierigen Orten anzubringen, kann die Sprayer selbst in lebensbedrohliche Situationen bringen, bespielsweise, wenn in U-Bahnanlagen gearbeitet wird. Gravierend sind auch die Folgen, die sich Ansprüchen von geschädigten Eigentümern besprühter Wänden und Anlagen ergeben. Leicht entstehen hier Forderungen von mehreren zehntausend Euro, die die Jugendlichen am Beginn ihres eigenständigen Lebens belasten. Auch die mit den polizeilichen Ermittlungen verbundenen Vernehmungen und Hausdurchsuchungen sind alles andere als angenehm und belasten die häuslich–familiäre Situation. 

HipHop und Graffiti sind längst keine neuen jugendkulturellen Phänomene mehr. In ihrer nun bald dreissigjährigen Geschichte haben sich aus der Akkulturation mit dem gesellschaftlichen Umfeld, mit anderen Kulturen, der Kulturindustrie und der herrschenden Politik und Öffentlichkeit zahlreiche gegenseitge Beeinflussungen ergeben. HipHop und Rap sind zu einem zentralen Gestaltungsprinzip der gegenwärtigen Popkultur geworden, Mainstreamformen haben sich ebenso entwickelt wie Spezialistennischen, deutschsprachiger HipHop ist derzeit eine wichtige Hoffnung der hiesigen Musikindustrie. Spray-art hat sich am Kunst- und Designmarkt etabliert. Diese Etablierung ist auch damit verbunden, dass zahlreiche Angehörige früherer Jugendszenen nun als professionelle Musiker, Designer, Künstler Konzertveranstalter tätig sind. In nicht wenigen Fällen führt jugendkulturelle Praxis zu einer beruflichen Orientierung und zu einer erfolgreichen Professionalisierung. 

In Bezug auf Graffiti haben polizeiliche Verfolgung und politische Instrumentalisierung ambivalente Folgen. So ist einerseits die Anzahl der illegal tätigen Sprayer zurückgegangen – was allersdings auch an kulturellen Veränderungen unabhängig von polizeiliche Tätigkeit liegen kann -, andererseits ist ein zunehmend konspirativ wirkender harter Kern entstanden, der für präventive Ansätze kaum noch erreichbar ist. Das Räuber-und-Gendarm-Spiel wird zur dominierenden Handlungsfolie und produziert eine Dynamik, die am Ende dazuführt, dass einzelne Sprayer sogar zu gewaltätiger „Gegenwehr“ gegen Wachpersonal und Polizei greifen. Hinzu kommt, dass die writer, deren tags von Verkehrsbetrieben und Wohnungsbaugesellschaften konsequent beseitigt werden, aufs scratchen, das Einritzen von tags in Glasscheiben ausgewichen sind.

Statt die anstössigen Elemente von HipHop und Graffiti für die argumentative Auseindersetzung mit Jugendlichen und für (selbst-) kritische Fragen an der Erwachsenenwelt zu nutzen, wird das Thema „Sachbeschädigung durch Graffiti“ und die Forderung nach Strafverschärfungenvon von ambitionierten Politikern gern zum Nachweis ordnungspolitischer Kompetenz genutzt. Die Zeiten, als Jugendpolitiker noch beherzt Stellung für Sprayer und legale Graffiti bezogen und so den Jugendlichen Integrationswillen signalisierten, wirken heute weit entfernt. Ergebnis des politischen Handelns ist hauptsächlich eine Verstärkung von polizeilichen Ermittlungskapazitäten. Die präventiven Möglichkeiten von Schule und Jugendhilfe werden demgegenüber kaum genutzt, geschweige denn ausgebaut. In einigen Berliner Bezirken wurde Einrichtungen der Jugendarbeit sogar untersagt, Angebote für graffitiinteressierte Jugendliche zu machen, da dies angeblich das sachbeschädigende Handeln unterstütze.

Was kann Jugendarbeit tun, welche Ziele verfolgt präventives Handeln bei der Förderung von Jugendlichen, die sich fürs Graffiti interessieren? Zunächst geht es dem Kinder- und Jugendhilfegesetz folgend darum, junge Menschen bei der Herausbildung ihrer Identität zu unterstützen, gestalterischen und kreativen Interessen Raum zu geben, soziale Prozesse zu fördern und gefährdende Elemente zu reduzieren. In der Praxis hieße das z.B. künstlerische Ausdrucksfähigkeit zu verbessern und Jugendlichen zu ermöglichen, auf diese Weise fame zu erreichen. Die Internationalität der Szene legt nahe, Begegnungen mit Sprayergruppen aus anderen Ländern durchzuführen. Welche bedeutende Rolle die künstlerische Qualifizierung spielen kann, läßt sich daran ablesen, daß zahlreiche ältere Sprayer mittlerweile an Kunsthochschulen studieren, Grafiker- oder Malerausbildungen begonnen haben, oder als Multimedia-Designer arbeiten. Auf die Potentiale, die Jugendkulturen für berufliche Orientierung bieten, wurde schon hingewiesen. Im Rahmen solcher fördernden Aktivitäten, die respect den Jugendlichen und ihren Interessen beinhalten gegenüber beinhalten, kann es auch erfolgreiche Aufklärung und Einwirken zur Vermeidung von Sacgbeschädigungen und Straftaten geben.

Prävention bezieht sich auf Erfahrungen anderer Präventionsbereiche wie z.B. der Suchtprävention. Das Konzept der "funktionellen Äquivalente" zielt darauf, nichtgefährdende Aktivitäten zu fördern, die für Jugendliche ähnliche psychosoziale Funktionen wie die gefährdenden Tätigkeiten haben. Konkret: fame erlangt man eben nicht nur durch das Anbringen von Graffitis an den unmöglichsten zudem illegalen Stellen, sondern eben auch durch handwerklich-künstlerisches Geschick und durch inhaltliche Aussagen. Indem die Ausdrucksfähigkeit der Jugendlichen gefördert wird und ihre Arbeiten angemessen öffentlich bei Ausstellungen, Festivals und Wettbewerben präsentiert werden, kann das Sprayen im legalen Rahmen attraktiver werden. Allerdings wird sich erfolgreiche Prävention nicht auf den unmittelbaren Bereich des Sprayens beschränken. Es geht überhaupt darum, die Erlebnis-, Handlungs- und Erfolgsmöglichkeiten von Jugendlichen zu verbessern. Dafür stellt die Jugendarbeit ein breites Angebots- und Methodenrepertoire bereit. Mindestens ebenso entscheidend sind jedoch die Gestaltungsräume und Möglichkeiten der Partizipation, die die Gesellschaft generell Jugendlichen bietet.

Es ist für eine erfolgreiche Prävention unerlässlich, das Thema "Graffiti" umsichtig, differenziert und unideologisch zu behandeln. Weder eine glorifizierende Verherrlichung noch repressive Ausgrenzung werden den Jugendlichen und der HipHop-Kultur gerecht. 

 

zurück zum Seitenanfang