Wolfgang Witte

Zum Verhältnis von Jugendszenen und Jugendarbeit in Deutschland

Die Verknüpfungen zwischen stilorientierten Jugendszenen aus dem Rock-, Pop- und HipHop-Kosmos und der Jugendarbeit sind vielfältig und kaum umfassend zu beschreiben. Musikübungskeller und Tonstudios in Jugendzentren, Bandcoaching für Anfängerbands, Musicalprojekte in Jugendkulturzentren, HipHop-Workshops in Jugendzentren und Schulen, Rockwettbewerbe für junge Bands, Festivalveranstaltungen, Rock- und HipHopMobile, die junge Bands vor Ort unterstützen, Folk-Festivals, Workshopreihen für musikinteressierte Jugendliche, Band- und MusikerInnenaustausch mit anderen Ländern, Breakdance-Wettbewerbe, Graffitifestivals, Multimediaproduktionen und –präsentationen im Internet, gezielte Angebote für Mädchen. Zwischen dem gemeinsamen Singen von Hitparadensongs am Lagerfeuer bis zur künstlerisch und technisch anspruchsvollen Musikproduktion, von Grafitti bis Multimediaanimation reicht die Phänomenologie der Jugendarbeit im Kontext von Jugendkulturen und Jugendszenen.

Welche Rahmenbedingungen und konzeptionellen Überlegungen liegen dieser Arbeit zugrunde? Wie verstehen die MitarbeiterInnen der Jugendarbeit ihre Tätigkeit? In welchem Verhältnis steht Jugendarbeit hier zur Kulturförderung, zum Schulbereich sowie zu anderen Feldern der sozialen Arbeit? 

Um das Verhältnis von Jugendszenen und Jugendarbeit zu verstehen, ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, welche Aufgaben Jugendarbeit in Deutschland, soweit sie staatlich veranlasst oder gefördert ist, wahrnimmt. Die gesetzliche Grundlage von Jugendarbeit ist im achten Band des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe beschrieben. Dieses Bundesgesetz ist in den Ausführungsgesetzen der Bundesländer ergänzt und konkretisiert. Andere Aufgabenfelder der Jugendhilfe sind die sozialpädagogischen Hilfen, die Tagesbetreuung von Kindern (Kindergärten), die Familienbildung und –förderung, die Jugendsozialarbeit, der erzieherische Kinder- und Jugendschutz. 

Die im § 11 des SGB VIII beschriebene Jugendarbeit weist jedoch gegenüber diesen anderen Bereichen der Jugendhilfe wichtige Besonderheiten und Unterschiede auf. Sie richtet sich auf die Förderung der Entwicklung aller jungen Menschen im Alter von 6 bis 27 Jahren, nicht nur an solche jungen Menschen, die der Betreuung oder der Unterstützung bei der Bewältigung von Entwicklungsdefiziten und – problemen bedürfen. Die Angebote der Jugendarbeit sollen an den Interessen der jungen Menschen anknüpfen und sie durch Mitbestimmung und Mitgestaltung dieser Angebote zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen. Als Schwerpunkte der Jugendarbeit werden u.a. die allgemeine Bildung, die kulturelle Bildung,die Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit und die internationale Jugendarbeit genannt. Im Berliner Ausführungsgesetz wird Jugendarbeit zudem ausdrücklich als „eigenständiger Teil des Berliner Bildungswesens“ beschrieben und so neben Schule, Kindergärten und Berufsausbildung mit einer eigenen Bildungslegitimation versehen. 

Die Träger von Jugendarbeit sind Jugendverbände (z.B. Pfadfinder, Gewerkschaftjugendverbände, Verbände der kirchlichen Jugendarbeit), eingetragene Vereine, Jugendinitiativen, gemeinnützige Wirtschaftsunternehmen sowie öffentliche Träger wie Kommunen und Gemeinden. In Berlin ist mehr als die Hälfte der Jugendarbeit öffentlich, der andere Teil durch die genannten anderen nichtstaatlichen Institutionen organisiert. Allerdings zielt das Gesetz im Sinne des Subsidaritätsprinzipes darauf ab, den freien Trägern, insbesondere den selbstorganisierten Jugendinitiativen und Jugendverbänden einen Vorrang einzuräumen. Auf diese Weise soll ein möglichst grosser Teil der Jugendarbeit durch Ehrenamtlichkeit, freiwilliges Engagement und Selbstorganisation ohne unmittelbare staatliche Einflussnahme erfolgen. Dies wird dadurch unterstützt, dass bei der Entscheidung über finanzielle staatliche Förderung den nicht-staatlichen Trägern durch die Jugendhilfeausschüsse ein Mitspracherecht eingeräumt wird.

Es wird deutlich, dass sich Jugendarbeit von anderen Bereichen der Bildung und der Kulturvermittlung erheblich unterscheidet. Anders als die Schule, zu deren Besuch die Kinder und Jugendlichen gesetzlich verpflichtet sind und die auf die Vermittlung definierter Wissensgehalte und auf standardisierte Abschlüsse zielt, basiert Jugendarbeit auf der freiwilligen Teilnahme der Kinder und Jugendlichen. Die Bildungsthemen ergeben sich vor allem aus den Interessen der Jugendlichen, nicht aus einem staatlich vorgegeben Rahmenplan. Im Unterschied zur Kultur(Kunst-)förderung zielt Jugendarbeit auch nicht primär darauf ab, künstlerische Begabungen junger Menschen im Sinne einer Nachwuchsförderung für bestimmte Kunstsparten zu fördern. Jugendarbeit folgt dagegen einem ganzheitlichen emanzipatorischen Bildungsansatz, der auf Partizipation, Förderung von Eigenständigkeit, sozialer Verantwortung, kommunikaktiven Fähigkeiten, interkulturellem Verständnis, die Verbindung von kognitivem, sozialem und emotionalem Lernen und friedlicher Konfliktlösung zielt. Auch wenn sich die Jugendarbeit mit ihrem Bildungsansatz an alle Kinder und Jugendlichen richtet, werden durch sie sowohl soziale Integration als auch allgemeinpräventive Wirkungen erwartet.

Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses kann dargestellt werden wie Jugendarbeit auf das stilbezogene jugendkulturelle Interesse junger Menschen eingeht. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren hat sich die Jugendarbeit durch die Veranstaltung von Discotheken oder durch die Einrichtung von Übungskellern für Beatbands geöffnet. Ein systematisches – soziologisch, pädagogisch und kulturell reflektiertes – Einbeziehen popkultureller Interessen Jugendlicher in die Jugendarbeit und die Entwicklung eines differenzierten Methodenrepertoires entwickelte sich – im früheren Westdeutschland – jedoch erst seit dem Ende der siebziger Jahre. Erst zu diesem Zeitpunkt schärfte sich auch innerhalb der Jugendsoziologie und der professionellen Jugendarbeit ein Bewusstsein von der identitätsbildenden Funktion von Jugendstilen und ästhetisch produktiven Jugendszenen, insbesondere auch von ihren utopischen Gehalten und emanzipatorischen Potenzialen. Die Herausbildung einer eigenen, auch über Stil und ästhetische Entscheidungen vermittelten, Persönlichkeit erscheint als dynamischer, niemals ganz abgeschlossener Prozeß, in dessen Verlauf ästhetische Formen permanent mit eigenen Stimmungslagen, sinnbezogenen Reflexionen und Wirkungen im sozialen Umfeld rückgekoppelt werden. Deutlich wird, dass die Intensität und die Dynamik dieser Auseinandersetzung zentral für den pädagogischen Bildungswert im Sinne von Zugewinn an Differenziertheit und Handlungsfähigkeit ist. Diese differenzierte Sicht, zu der auch die Rezeption der britischen ethnographischen Jugendsoziologie beigetragen hatte, löste eine bis in die achtziger Jahre anhaltende zwischen Indifferenz und Ablehnung schwankende Haltung ab, die kurioserweise sowohl in der völkisch-rassistischen Ablehnung des Jazz während des Nationalsozialismus als auch im Antiamerikanismus und der Kritik der Kulturindustrie durch die Linke wurzelte.

Die Skizzierung der Aufgaben der Jugendarbeit in Deutschland macht verständlich, weshalb Popkultur im weitesten Sinne in allen Bereichen der Jugendarbeit eine herausragende Rolle spielt, die nur mit derjenigen des Sports verglichen werden kann, wobei die Trennlinie zwischen beiden Bereichen seit der Ausbreitung der Trendsportarten kaum noch eindeutig zu ziehen ist. Popkultur ist heute das ästhetische Medium, in dem sich die Identitätsbildung der wohl meisten jungen Menschen vollzieht. Dies betrifft sowohl die Teeny-Kultur als auch die zahlreichen Jugendszenen von Grufties über Punks bis zu den verschiedenen HipHop-Stämmen und Techno-Szenen, die sich an ästhetischen Stilen entwickeln. Die Welt der Popkulturen bildet ein Medium, in dem heute, nachdem gesellschaftliche Grossorganisationen wie Kirchen, Gewerkschaften und Parteien an Einfluss verloren haben, Orientierung stattfindet, Geschlechterrollen und Lebensperspektiven erprobt und gefunden werden können. Dass diese Orientierung nicht mit Manipulation durch die Kulturindustrie gleichzusetzen ist, sondern einen komplexen Auseinandersetzungsprozess des Sich-Einfindens in Identität darstellt, hat die Jugendsoziologie der vergangenen Jahrzehnte vielfach gezeigt. Die Aufgabe der Jugendarbeit besteht demnach darum, diesen Prozess der kreativen Gestaltung und Entwicklung eigener Identitäten zu fördern und zu begleiten. Über freizeitbezogene Interessen hinaus ist sich die Jugendarbeit bewusst, dass Jugendliche oftmals über das Freizeitinteresse hinaus auch eine berufliche Orientierung suchen. Für nicht wenige bietet die Betätigung in den Ton- und Videostudios der Jugendarbeit – auch in den Graffiti-Werkstätten – Anregungen für einen entsprechenden Berufsweg.

Entsprechend ihrer konzeptionellen Bezüge in der Sozial- und Kulturpädagogik, in der Bildungsarbeit und der politischen Partizipation hat die Jugendarbeit im Hinblick auf Jugendstile zahlreiche Angebotsformen entwickelt. Hierzu gehören die Gruppenarbeit mit Instrumentengruppen, die Durchführung zeitlich begrenzter thematischer Projekte, Kurse zur Vermittlung spezifischer Kenntnisse, die Erstellung eigener Medienprodukte wie z.B. von Videofilmen, Internetpräsentationen oder (alternativen) Radiosendungen, die Durchführung von Festivals und Wettbewerben und vieles mehr. Die professionelle Tätigkeit der Jugendarbeiter reicht hierbei von der beziehungsorientierten Gruppenanleitung bis zur Sicherung der Rahmenbedingungen für jugendkulturelles Handeln. Dies hängt im einzelnen von den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der jeweiligen Zielgruppe ab. Eine Musicalgruppe von Zwölfjährigen benötigt andere Formen von Unterstützung und Zuwendung als eine Sprayergruppe junger Erwachsener. Die Anleitung durch Jugendarbeiter wird dabei immer eine Verbindung von der Vermittlung spezifischen Fachwissens, der Gestaltung der sozialen Beziehungen und der Präsentation gegenüber der sozialen Umgebung und der Öffentlichkeit beinhalten. Häufig werden die Jugendlichen auch in der Wahrnehmung ihrer jugendpolitischen Interessen unterstützt, z.B. wenn es um die Bereitstellung „legaler“ Flächen zum Sprayen oder ähnliches geht. 

Trotz der positiven Rolle, die Popkultur, Jugendszenen und Jugenstile für junge Menschen spielen, muss berücksichtigt werden, dass diese Chancen auch mit Risiken verbunden sind, die von der Jugendarbeit aufgenommen werden müssen. Jugendstile und Jugendkulturen enthalten in aller Regel Elemente, die Entwicklungschancen beeinträchtigen können oder die unmittelbar in Widerspruch zu den Grundsätzen einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft stehen. 

In den meisten Jugendszenen existiert ein problematischer Umgang mit legalen und illegalen Drogen, oft herrscht in Jugendgangs ein unvertretbares Maß an – meist männlich geprägter - Gewalt, in rechtsextremistischen Jugendszenen werden Gewalt und rassistische Vorstellungen gepflegt, andere Szenen geraten durch Sachbeschädigungen mit den Öffentlichkeit in Konflikt. Gerade diese problematischen Seiten von Jugendszenen und Jugendkulturen prägen oft die Diskussion in der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien über Jugendliche. Von den Jugendarbeit wird dabei nicht selten erwartet, dass sie diese Probleme beseitigt oder zumindest eindämmt. 

Jugendarbeit muss sich zwar in ihrer Arbeit solchen Problemen stellen, sie ist aber damit überfordert, die Gesellschaft von den oben genannten Problemen mit ihrer Jugend zu erlösen. Die Methode der Jugendarbeit ist das Fördern und das Unterstützen von Jugendlichen. Jugendarbeit kann hauptsächlich „positiv“, verstärkend wirken. In der Praxis der Jugendarbeit werden daher die förderlichen, kreativen Elemente von Jugendszenen gestärkt und zugleich die regressiven, gefährdenden Anteile reduziert. Beispielsweise wird in zahlreichen Jugendfreizeiteinrichtungen kein Alkohol ausgeschenkt. Sofern die entsprechenden Fördermöglichkeiten und attraktive Äquivalente für die Jugendlichen vorhanden sind, wird dies dann auch akzeptiert. Allerdings sollten keine Illusionen über die Wirksamkeit und die Reichweite solcher Strategien bestehen. Erreicht werden höchstens diejenigen Jugendlichen, die Angebote der Jugendarbeit wahrnehmen. Ein pädagogischer Einfluss kann also höchstens in Bezug auf diese Jugendlichen erwartet werden. Flächendeckende Prävention kann nicht geleistet werden, selbst wenn positve Multiplikatoreneffekte in Rechnung gestellt werden. Der wesentliche Beitrag der Jugendarbeit liegt vielmehr darin, die positiven, kreativen und sozialen Potenziale der Jugendszenen für die Subjektbildung junger Menschen zu unterstützen und zu fördern.

in: "HIP meets XON - Ansichten einer Jugend aus Frankreich, Deutschland und Rußland"   
 Hrsg.: die werkstatt. Schriften.Jahresbericht 2002, Projektreihe "Jugendkulturen und politische Bildung in Europa heute"