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Wolfgang Witte

Akzeptanz: Prävention in der Krise?


In den letzten Jahrzehnten war es ein zentrales Motiv der drogen- und suchtbezogenen Fachdiskussion, nicht Therapie oder Repression in den Vordergund zu stellen, sondern die Notwendigkeit der sozialen Vorbeugung vor Suchtgefährdungen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Lange hat es gedauert, bis auch konservative Politiker akzeptierten, daß nicht nur Drogenkonsumenten Suchtgefahren ausgesetzt sind, sondern daß diese Gesellschaft eine Vielzahl psychischer Abhängigkeiten produziert, zuvorderst die Massen Alkohol- und Medikamentensüchtiger. 

Die stückweise Anerkennung der Notwendigkeit von Suchtprävention ist auch als ein Zugeständnis zu werten, daß sich Suchtverhalten in psycho-sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herausbildet, die durch die politischen Rahmenbedingungen sowie durch soziale und pädagogische Arbeit beeinflußbar sind. 

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, daß ein großer Teil der Fachöffentlichkeit einen Erfolg darin sah, daß das Programm der Bundesregierung mit dem demonstrativ-martialischen Titel "Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan" trotz aller Widersprüchlichkeit relativ detaillierte Aussagen zu geplanten Verbesserungen im präventiven Bereich enthielt. Bei aller Widersprüchlichkeit und der Begrenztheit der eingesetzten Mittel ergaben sich doch zusätzliche Möglichkeiten präventiven Handelns "vor Ort" mit einem gestaltbaren Handlungsrahmen. 

"Erfolg" bedeutet in diesem Zusammenhang, einer konservativen Regierung Aussagen abgerungen zu haben, die Grundlage einer verbesserten Praxis sein können, z.B. die Ergänzung des Begriffes Drogenprävention durch den der Suchtprävention, die Ablehnung von Abschreckungsstrategien, die Integration von Prävention in die konkreten Lebens- und Erziehungszusammenhänge von Jugendlichen, Langfristigkeit als Voraussetzung erfolgreicher Prävention, die Bedeutung von Multiplikatoren in Schule und Jugendarbeit.

Prävention als Bestandteil von Drogenpolitik und der psycho-sozialen Arbeit in diesem Feld ist natürlich wesentlich älter als das erwähnte Programm der CDU/FDP-Bundesregierung. Spätestens seit Ende der siebziger Jahre haben sich Konzepte durchgesetzt, die über Abschreckung und broschürenlastige Aufklärung hinausgehen und die stattdessen Jugendliche in ihrer "Un-Abhängigkeit" fördern.

Theoretische Grundlagen bot zunächst das Konzept der "funktionellen Aquivalente"(Silbereisen/Kastner 1987), das den Drogenkonsum von Jugendlichen als Lösungsversuch von Entwicklungsproblemen versteht. So kann mit dem Zigarettenrauchen ein Erwachsenenstatus antizipiert werden, mindern Alkohol- und Drogenkonsum die mitunter belastende Aufmerksamkeit dem eigenen Selbst gegenüber. Nicht zuletzt hat der Gebrauch von Drogen für Jugendliche eine Aura von Abenteuer. Es werden Grenzen gesucht und ?berschritten. Für Prävention kommt es demnach darauf an, "funktionelle Aquivalente" zu fördern, die Jugendliche darin unterstützen, Erfolge zu haben und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Nach Hurrelmann (1987) geht es ferner um angemessene Handlungskompetenzen, mit denen komplizierte und belastende Lebenssituationen bewältigt werden können und die verhindern, daß Jugendliche in den Konsum von Drogen und Alkohol flüchten. In eine ähnliche Richtung zielt das Konzept der "protektiven Faktoren"(Rutter 1990), wonach es darauf ankommt, Elemente zu stärken, die Menschen davor schützen in schwierigen Situationen zu Suchtmitteln zu greifen.

Die skizzierten theoretischen Überlegungen haben eine Vielzahl praktischer Ansätze in den Schule und Jugendarbeit, auch im Hort- und Vorschulbereich hervorgebracht. Das Spektrum reicht von einer eher beziehungsorientierten offenen Arbeit, ?ber themenspezifische Projektarbeit bis zu erlebnis- und kulturpädagogischen Methoden (Witte 1991, BzgA 1993). 

Die Methodenvielfalt präventiver Arbeit entspricht der Vielfalt der pädagogischen Felder, in denen präventive Ziele angestrebt werden. Dieser Umstand führt immer wieder zu heftigen Kontroversen darüber, was eigentlich spezifisch für Suchtprävention sei. Einem Videoprojekt, bei dem sich Jugendliche mit Themen ihrer Lebenswelt befassen, ist meist kaum anzumerken, ob hier sucht-, aids-, gewaltpräventive, medien- oder kulturpädagogische Zielsetzungen Pate standen, oder ob es sich etwa um ein Projekt zur politischen Bildung handelt. Kann man Suchtgefahren bei Jugendlichen vorbeugen ohne zugleich Prävention im Hinblick auf andere Gefährdungen und regressive Mechanismen zu betreiben? 

So griffig und einleuchtend solche allgemein-präventiven Überlegungen sind, so schwierig läßt sich die Effizienz von Suchtprävention nachweisen. Die "Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauches"(Institut für Therapieforschung, 1991), die die Wirksamkeit verschiedener Ansätze der primären Suchtprävention anhand von Forschungsergebnissen untersucht hat, gibt hier jedoch Hinweise. Wirksamkeit ist demnach gegeben bei Ansätzen, die sich auf die protektiven Faktoren beziehen - anstatt sich an Risikofaktoren zu orientieren -, die langfristig sind, die "Lebenskompetenz"(u.a. Problemlösungsfähigkeiten, Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen) fördern, die Alternativen zum Alkohol- und Drogengebrauch bieten, die bei Jüngeren ansetzen, die Nicht- oder Wenigkonsumenten als Zielgruppe haben, die den familiären Kontext einbeziehen, die Jugendliche als Multiplikatoren gewinnen und die stadtteilbezogen vernetzend tätig sind. Einschränkend gilt allerdings, daß es in der Bundesrepublik  keine entwickelte Präventionsforschung gibt und daß Wirksamkeitsforschungen dazu neigen, diejenigen Methoden als wirksam auszuweisen, deren Wirksamkeit sich gut messen läßt. Gerade dies ist aber schwierig, wenn es nicht nur um vordergründige Fakten, sondern um komplexe Bedeutungsmuster geht.

Bei allen Unterschieden nach Arbeitsfeldern und eingesetzten Methoden existiert bislang für Prävention ein Konsenz darüber, daß es sinnvoll ist, Kinder und Jugendliche, auch Erwachsene vor Suchtgefahren, vor Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmiábrauch zu schützen. Dieses Einverständnis scheint sich aufzulösen. Im Gefolge der akzeptierenden Drogenarbeit, die zunächst darauf abzielte, pragmatatisch sinnvolle Hilfen für langjährig Heroinabhängige, die einer Therapie nicht zugänglich sind, zu entwickeln, wächst die Bereitschaft, auch den Konsum harter Drogen als gesellschaftliche Normalität hinzunehmen und die Entscheidung über Konsum oder Nicht-Konsum ausschließlich beim Verbraucher zu verorten. 

Im Kern geht es bei der Diskussion um Prävention bzw. Legalisierung des Drogenkonsums um die Frage, wie diese Gesellschaft psycho-soziale Problemlagen, deren Ausdruck der massenhafte Konsum von Suchtmitteln ist, bewältigt und welche Rolle sich Pädagogen im Hinblick auf die Verfaßtheit der Gesellschaft zuweisen. Die Gefahr, die von der Neigung zu akzeptierenden Ansätzen sozialer Arbeit ausgeht, liegt darin, daß gesellschaftliche Probleme nicht (mehr) im Hinblick auf Veränderung und Lösung gesehen werden, sondern, daß die Vorstellung von der Gesellschaft und ihren Zielen so umdefiniert wird, daß hier kein Spannungsfeld mehr existiert. Mit diesem Trend zur Affirmation regressiver Verhaltensweisen, seien es Alkohol- oder Drogenmißbrauch oder die ebenfalls verbreitete Hinnahme von rassistischen und nationalistischen Einstellungen in der Jugendarbeit, stellt die Sozialpädagogik ihre gesellschaftspolitische Kompetenz zur Disposition. 

Bislang existierte in der Fachöffentlichkeit weitgehend ein Konsenz darüber, daß Drogen-, Alkohol- und Medikamentenmißbrauch eine Folge der Verdrängung von Konflikten, auch Ausdruck individueller Überforderung bei der Bewältigung objektiver Probleme ist. Zum Wesen der Konsumgesellschaft gehört ja gerade, daß menschliche Bedürfnisse und Wünsche ersatzhaft durch Waren befriedigt werden. Bislang stand diejenige soziale Arbeit, die sich dem Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft und einer demokratischen Öffentlichkeit verpflichtete, diesen gesellschaftlichen Fluchtmechanismen kritisch gegenüber. Die Kritik von Alkohol-, Medikamenten- und Drogenkonsum ist durchaus mit unterschiedlichen therapeutischen Konzepten, sei es mit oder ohne Abstinenzgebot, zu vermitteln.

Auch für Prävention läßt sich über verschiedene Ansätze in den verschiedenen Arbeitsfeldern und im Hinblick auf unterschiedliche Zielgruppen reden und streiten. Schwierig wird es, wenn der Konsum von suchtfördernden Stoffen - seien es illegale oder legale - generell zu einem normalen, unproblematischen Alltagsphänomen verharmlost wird.

Deutlich werden die Schwierigkeiten, wenn man die abstrakten Erwägungen auf das pädagogische Handeln im Alltag bezieht. Nach bisherigen präventiven Konzepten geht es im wesentlichen darum, die Handlungs- und Erfahrungsfähigkeit von Jugendlichen zu stärken. In der Regel ist dies mit einem mehr oder weniger deutlichen Abstinenzgebot für die Zeit der gemeinsamen Tätigkeit verbunden. Vermittelt wird, daß es hier darum geht, Probleme zu lösen oder die eigenen Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln, anstatt sich mit Stoffen - welcher Art auch immer - zuzuschütten. Die Botschaft ist eindeutig, auch wenn sie den Jugendlichen einmal nicht gefallen sollte. Der Lehrer oder der Mitarbeiter einer Jugendeinrichtung bietet ein Modell, mit dem man sich auseinandersetzen kann - auch eines, das an der Person selbst überprüfbar ist.

Dagegen existieren bislang keine Konzepte, wie in einem pädagogischen Alltag der Konsum von Drogen und Alkohol so gelernt werden könnte, daß die Jugendlichen daraus einen Gewinn hätten. Das einzige Beispiel, daß an dieser Stelle regelmäßig genannt wird, ist das gemeinsame italienische/französische Essen, wobei in Maßen und mit Genuß ein besserer Wein getrunken wird. Die Hoffnung liegt dann darin, daß die Jugendlichen hierdurch eine Einbindung des Konsums von Alkohol in ein Ritual erleben, hierin ein Modell sehen und dadurch weniger zum unritualisierten Suff neigen. Welche Chancen hat ein solches gelegentliches Erlebnis angesichts der Erfahrungen von Jugendlichen in der Familie und im sonstigen Umfeld? Vor allem aber: Was nützt ein solches Beispiel für die Beantwortung der wesentlichen Fragen, die Jugendliche haben: wie sie ihr Leben gestalten wollen, welche Zukunft sie haben und wie sie mit Problemen in Schule, Elternhaus, Beruf, mit Beziehungen und Freunden zurechtkommen.

Für das Feld der illegalen Drogen gibt es erst recht keine plausiblen Beispiele, wohl nicht nur wegen des Problems der Illegalität. Wer seine Jugend um 1970 erlebt hat, konnte durchaus Jugendarbeiter kennenlernen, die gemeinsam mit den Jugendlichen auch mal einen Joint rauchten. Wurde dabei etwas wesentliches gelernt, wurden hier Wege zur Ekstase deutlich? Oder überwog das fatale Vorbild, das diejenigen Jugendlichen bestärkte, für die das Haschischrauchen eine Flucht war? 

Es bleibt der Befund von der ekstasefeindlichen Gesellschaft und der Wunsch, Jugendlichen Räume zu öffnen, die Selbstvergessenheit und spontanes Empfinden erlauben. Es fragt sich aber, ob dies nicht leichter und ungefährlicher auf anderen Wegen als durch den Konsum von Drogen zu erreichen ist, beispielsweise durch Meditation, Kunst und geglückte Sexualiät.

Bedenkenswert ist die Frage, weshalb die Ideologie der Akzeptanz offenbar zunehmend die Lufthoheit über die sozialpädagogischen Seminare gewinnt. Handelt es sich hier, im Vergleich zu früheren Jahren, um ein Mehr an Verständnis und Sensibilität für die Klienten? Oder ist dies ein uneingestandener Versuch, der Forderung nach einer eigenen Positionsbestimmung und Sinndefinition zu entgehen? Ich habe nicht den Eindruck, daß die Bereitschaft von SozialpädagogInnen und LehrerInnen, sich auf die ihnen anvertrauten Jugendlichen einzulassen heute größer ist als vor zehn oder zwanzig Jahren. Was heute, in Zeiten von Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und knapper Mittel viel schwieriger zu "akzeptieren", vor allem: zu realisieren ist, sind die Chancen und hoffnungsvollen Perspektiven derjenigen, die gewöhnlich Adressaten sozialer Arbeit werden. 

Ist das Akzeptieren von Drogenkonsum als gesellschaftlicher Normalität nicht genau der falsche, weil auch regressive Weg, mit der schwieriger gewordenen Realität zurechtzukommen? Ähnlich wie bei der Arbeit mit nationalistisch und rassistisch orientierten oder gewaltbereiten Jugendlichen ist die Frage zu beantworten: Was soll akzeptiert und damit bestärkt werden - das regressive Verhalten oder die Möglichkeiten, psychische oder soziale Konflikte zivilisiert, aufgeklärt zu lösen?(Witte 1993)

Es sollte darüber geredet werden, wie es um die Sinnhaftigkeit sozialer Arbeit bestellt ist, wo zunehmend die materiellen Voraussetzungen zum sozialen Ausgleich schwinden und an die Stelle einer reformierenden Politik zunächst das trostlose gesellschaftliche Immer-weiter-so und nun die Perspektive dauerhafter Verschlechterungen getreten sind. Vor diesem Hintergrund erscheint Akzeptanz nicht als besonders menschenfreundliche, liberale oder gar libertäre Innovation, sondern als Symptom der Ratlosigkeit, den Klienten nicht mehr bieten zu können als eine freundliche Begleitung in ihrer Misere.

Prävention, zumal in ihren besseren Traditionen, war da schon weiter. Indem sie nach den Ursachen psycho-sozialer Probleme fragt, um diese strukturell, politisch und in der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zumindest teilweise zu verändern, gewinnt sie auch eine gesellschaftliche Dimension. Der Wert von Prävention, ob in Bezug auf Suchtgefahren oder Gewalt liegt darin, daß sie Schule und Jugendarbeit, auch politische Strukturen, im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen kritisiert und so zur Aktualisierung dieser pädagogischen Felder beitragen kann. Prävention beinhaltet eine Utopie davon, wie Gesellschaft stattdessen aussehen könnte. Mit Suchtprävention verbindet sich auch das Ziel, daß Menschen ihre gesellschaftliche und psycho-soziale Umwelt gestalten, anstatt ihr Unglück mit Alkohol, Medikamenten und Drogen zu vergessen.
 

Literatur:

Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Der Bundesminister des Inneren: "Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan - Maßnahmen der Rauschgiftbekämpfung der der Hilfe für Gefährdete und Abhängige" Bonn 1990

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: "Handbuch zur Gesundheitsförderung und Erlebnispädagogik in der Jugendarbeit" Köln 1993

Hurrelmann, K.: "Probleme mit dem Erwachsenwerden - Jugendliche zwischen Überfluß und psychosozialer Belastung", Vortrag für DFG-Veranstaltung im Wissenschaftszentrum, Berlin 1987

Institut f. Therapieforschung: "Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs", München 1991

Kastner/Silbereisen: "Die Funktion von Drogen in der Entwicklung Jugendlicher" in: Bartsch/Knigge-Illner: "Sucht und Erziehung" Band 2, Weinheim/Basel 1988

Rutter, M.:"Psychosocial resilience and protective mechanisms" In: RolfJ. u.a.: "Risk and protective factors in the development of psychopathology" Cambridge 1990 

Witte W.: "Kultur- und medienpädagoische Ansätze suchtpräventiver Jugendarbeit" in: deutsche jugend 5/1991

Witte, W.: "Jugendarbeiter können nicht mit jeder Gruppe arbeiten" in: sozial extra 1+2/93
 

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